Leif stellte die beiden Koffer Kattlas in den Flur, während Kattla hinter ihm die Wohnungstür schloß und das Licht anschaltete. Dann warf sie ihren Rucksack neben ihre Koffer und schälte sie sich aus ihrer Jacke.
"Komm rein!" meinte sie grinsend zu ihrem Bruder und öffnete nacheinander alle Zimmertüren. Ein großes und ein kleines Zimmer gingen nach vorn zur Straße, ein weiteres kleines, Küche und Bad nach hinten zum Hof. Allein das große Zimmer war größer als das, welches Katta zu hause in Jörð hatte. Über 70 Quadratmeter. Unendliche Weiten mitten in Höfudfjördur, die jetzt die Heimat Kattlas sein sollten. Trotzdem kam sie sich eingesperrt vor. Bedrängt von diesen Massen von Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Allein in dem Haus, in dem sie jetzt wohnte, gab es vier Wohnungen wie die ihre, dazu unten zu ebener Erde zwei Läden. Der eine handelte mit Lebensmitteln und alltäglichen Kleinigkeiten, der andere mit Elektronikzeug.
Kattla stand an einem der Fenster und schaute hinaus auf die Straße. In nicht einmal zwanzig Schritt Entfernung erhob sich das Haus gegenüber und versperrte die Sicht. Zum Glück lag Kattlas Wohnung ganz oben in der zweiten Etage. So konnte sie wenigstens den Himmel sehen. Nach hinten war der Blick weiter, das nächste Haus sicher hundert Meter entfernt. Dazwischen Rasen, Büsche und ein paar Birken.
"Ihr werdet mir fehlen." Leif trat an sie heran und umarmte seine Schwester. "Du uns auch. Ein paar werden Dich aber auch beneiden." Kattla versuchte ein gequältes Lächeln. "Wird schon!" meinte sie mit schlecht gespieltem Optimismus. Dann ging sie in den Flur, schnappte sich ihren Rucksack und schleppte ihn in die Küche.
Obwohl die Wohnung noch mehr als dürftig eingerichtet war, genauer gesagt befanden sich nur eine Matratze im Schlafzimmer und ein Spiegelschrank im Bad darin, waren Kattla, ihr Bruder und ihr Vater in den letzten Wochen schon ein paar mal hier gewesen. Die Wohnung war vorgerichtet und die Küche so weit ausgestattet, dass sie benutzt werden konnte. Inklusive eines alles andere als kleinen Kühlschrankes. Und den begann Kattla aus dem Inhalt ihres Rucksackes heraus aufzufüllen. Ihre Eltern hattes es reichlich gut mit ihr gemeint. Mit all dem Fleisch - Schaf und natürlich auch von ihrem Wal -, Fisch und diesem und jenem aus Mutters eigener Herstellung konnte sie mindestens zwei Wochen sehr ungesund leben, ohne sich auch nur ein Fitzelchen dazukaufen zu müssen. Und wäre am Ende sicher fett wie ein Walroß. Trotzdem war es gut, all das zu haben.
"Wohin sollen die Koffer?" Leif schaute seine Schwester fragend an. "Ins Schlafzimmer bitte! Mal sehen, wie lange ich aus den Koffern leben werde." Kattla lachte auf. Im Bad stand eine Waschmaschine. Neben dem Kühlschrank das Wichtigste, was Kattla sich für ihre Wohnung bestellt hatte. Alles andere hatte Zeit. Selbst ein Auto war vorerst nicht notwändig, da nur wenige Schritt vom Haus entfernt der Bus hielt und sie so gerade einmal zehn Minuten Weg zur Universität hatte. Ein Auto würde erst dann wichtig werden, wenn sie nach Hause fahren wollte. Also jetzt. Gleich. Sofort! Nur würde das so schnell nichts werden. Ihre Eltern zahlten zwar die Wohnung und die Uni, auch ein Taschengeld, so das Kattla sicher nicht an alten Knochen nagen musste, aber große Sprünge würde sie damit auch nicht machen können.
Zwei Stunden später war Leif dann gegangen. Er wollte heute noch zurück in Jörð sein. Kattla schaute vom Fenster aus seinem Pick Up nach, bis lange nachdem er verschwunden war. Jetzt war sie das erste Mal in ihrem Leben allein. Trotz zehntausenden von Menschn um sie herum. Allein.
Am nächsten Morgen machte sich Kattla auf zur Bushaltestelle und fuhr ins Zentrum,
um all den lästigen Behördenkram hinter sich zu bringen.