Autor Thema: Auf dem Nordanik, etwa 30 Seemeilen vor der Südwestküste  (Gelesen 2616 mal)

Kattla Brynjarsdottir

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Langsam treckte die "Anna" über das ruhige Wasser des Ozeans. "Anna", das war ein knapp 20 Meter langer Kutter, dessen Kapitän Brynjar Svenson gemeinsam mit seinem Sohn Leif und seiner Tochter Kattla auf der Brücke stand. Konzentriert und jeder mit einer Tasse Kaffee in der Hand, schauten alle drei über die Wasserfläche, auf der sich die Strahlen der noch tief stehenden Morgensonne spiegelten.

Seit drei Stunden ging das jetzt schon so. Drei Stunden, in denen nichts spannenderes geschah als das Tuckern des Diesels. Das Warten und Schauen wurde unterbrochen, als Brynar für die anderen unerwartet den Motor aufheulen ließ. Mit voller Kraft voranschnellend korrigierte die "Anna" ihren Kurs leicht nach West. Die Geschwister schauten angespannt in die Richtung, in die der Bug wies. Noch immer fiel kein Wort.

Kattlas Hand griff nach ihrer Uhr und stellte die Stoppuhr ein. Dann schaute auch sie wieder voraus. Minuten vergingen. Dann erhob sich etwa eine Meile voraus kurz hintereinander zwei winzige Fontänen aus dem Wasser. Kattla startete die Uhr und ihr Vater fragte: "Und?" Fast synchron sagten die Geschwister: "Hrefna!" Brynjar nickte zustimmend. Aber ehrlichgesagt hatte er auch nichts anderes erwartet. Den Blas eines Zwergwales hätten die Beiden schon als Kinder erkannt.

Irgendwann blies der Wal erneut. Kattla schaute auf die Stoppuhr. "Vier fünfzig." Wieder warten. Dann erneut "Vier dreiundfünfzig." Anscheinend war es ein Einzelgänger, der völlig sicher und unbeeindruckt seine Bahn zog. Die "Anna" hatte sich inzwischen auf weniger als eine halbe Meile dem Wal genähert. Jetzt wurde es Zeit für Leif, die Harpune fertig zu machen. Sein Vater schaute ihn an und beide verstanden sich ohne ein Wort. An Kattla gewandt, die immernoch mit der Stoppuhr in der Hand auf den Wal wartet und unverwandt auf die Stelle schaute, an der er in etwa auftauchen musste, sagte Brynjar: "Willst Du?"

Kattla schrak auf. Sie? Sie sollte? Das Einzige, was sie bisher harpuniert hatte, waren leere Fässer. Sie sollte ...? Kattlas Mundwinkel verzogen sich in Richtung ihrer Ohren und ihre Augen strahlten. "Hmmm." war das Einzige, das sie hervorbrachte. Brynjar nickte. "Na dann!"

Kattla ging zu einer Stahlkiste an der Steuerbordwand der Brücke. Sie öffnete sie und nahm zwei handgroße Blechdosen heraus. Sie steckte sie in die Taschen ihres Anoraks, zog den Reißverschluß zu und verließ die Brücke.

Vorn am Bug stand die Kanone. Nach der Fangsaison, wenn Brynjar seine Lizenz eingelöst hatte, würde sie wieder abgebaut werden und die "Anna" sich in einen fast normalen Fischkutter verwandeln. Doch jetzt stand sie wie eine Ballkanone auf dem Kinderspielplatz am Bug der "Anna" und wartete darauf, zum Einsatz zu kommen. Kattla öffnete das Gatt in der Lafette der Kanone und zog den darin befindlichen Vorläufer ein paar Fuß heraus. Dann nahm sie die Harpune aus dem Rack und klinkte die Leine in der Harpunenöse ein. Nun schob sie gut anderthalb Meter lange Harpune in die Mündung der Kanone, immer darauf bedacht, daß der Vorläufer in der dafür vorgesehenen Nut lag.

Das war der schwere Teil. Jetzt folgte der gefährliche. Kattla nahm die kleinere der beiden Blechdosen aus ihrer Anoraktasche schraubte sie auf und lies deren Inhalt in ihre Hand gleiten. Es war die Ladung, die in der Spitze der Harpune platziert werden musste. Kattla stellte den Zünder auf zwei Sekunden Verzögerung, dann drückte sie die beiden Widerhaken der Harpunenspitze zusammen und ließ die einzöllige Ladung vorsichtig in die Öffnung der Harpunenspitze gleiten. Jetzt sah diese nicht mehr aus wie eine überdimensionale, stumpfe Kanüle, sondern spitz wie ein Pfeil. Die Ladung arretierte zugleich die Wiederhaken, diese wiederum die Ladung. Jetzt zog Kattla noch die Kunststoffspitze vom Zünder und damit war die Harpune scharf gemacht.

Teil Zwei war fertig. Jetzt kam Teil Drei. Am hinteren Ende der Kanone öffnete Kattla den Block, der das Lager der Treibladung verschloß. Sie nahm diese aus der größeren Dose und steckte sie in das Kartuschenlager. Dann legte sie den Blockhebel um, das Lager war dicht und die Kanone einsatzfertig. Kattla drehte sich um in Richtung Brücke und gab das Handzeichen, dass die Harpune scharf war. Ihr Vater nickte und die heiße Phase der Jagd begann.

Der Wal war durch den Kutter noch immer nicht oder kaum beunruhigt. Zwar versuchte er, seinen Kurs nicht zu kreuzen, wurde aber auch nicht schneller, tauchte nicht länger und änderte seinen Kurs nur minimal. Blas! 250 Meter. Kattla überschlug in Gedanken Kurs und Tauchzeit. Ihr Vater schien das Gleiche gemacht zu haben, denn der steuerte die "Anna" so, dass sie das nächste Auftauchen deutlich näher erwarten konnten. Minuten vertropften wie Blei. Blas! 150 Meter. Warten. Warten. Blas! 40 Meter! Katta löste die Sicherung der Kanone und griff fest in deren Griffe. Ihr Zeigefinger lag unter dem Abzug und berührte ihn. Kattla musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Drei Minuten. In etwa dort sollte der Wal auftauchen. Ruhig bleiben! 4 Minuten. Kattla richtete die Kanone auf die Stelle, an der sie den Wal erwartete. Über die Schiene der Kanone zielte sie auf die Wasseroberfläche. Hoffentlich waren sie nicht zu nah. Vier dreißig. Hoffentlich hatte der Wal seinen Kurs nicht geändert. Die "Anna" schwenkte etwas nach Steuerbord. Vier Fünfzig! Wo verdammt nochmal war dieser Wal? Fünf ... Fünf zehn ... Direkt in Kattlas Visier brach der Wal durch die Wasseroberfläche und blies. Kattlas Finger legte sich auf den Abzug während sie die Kanone einen Hauch nachrichtete. Sie spürte nicht, wie sie den Druckpunkt des Abzuges überschritt. Die Detonation der Zweizollladung in der Kanone schlug in ihre Ohren und sie sah, wie die Harpune, die Leine hinter sich herziehend, auf den in etwa zwanzig Metern Entfernung schwimmenden Wal zugflog und kurz vor seiner Finne in dessen Körper versank. Augenblicke später ertönte ein dumpfer Schlag im Körper des Wales. Die Harpunenladung hatte gezündet. Ihr Druck würde Lunge und Herz des Wales zerstört haben. Das der Treffer so gut war, war sich Kattla sicher. Gleichzeitig hätten sich die Widerhaken der Harpune abgespreizt und würden sich nun unlösbar im Fleisch und zwischen den Knochen des Wales verhaken. Und Kattla hatte ihren ersten, "eigenen" Wal erlegt.

Mit zitternden Knien ging Kattla zurück zur Brücke, wo Vater und Bruder sie mit stolzem, anerkennenden Lächeln und Schulterklopfen empfingen. Eine Stunde später war das etwa 9 Meter lange und 8 Tonnen schwere Tier am Spicktakel und lag längsseits. Die "Anna" ging auf Heimatkurs und ihr schwer arbeitender Diesel zog den Wal in Richtung Land und Weiterverarbeitung.


Ég er!
« Letzte Änderung: 01.01.1970, 01:00 von 1402321825 »